Gutachten zur «Arbeitsdefinition Antisemitismus» der IHRA
Expert Opinion On the International Holocaust Remembrance Alliance's "Working Definition of Antisemitism"
October 2019
Mit der im Jahr 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) anerkannten «Arbeitsdefinition Antisemitismus» liegt ein Instrument für die notwendige Erfassung und Bekämpfung von Antisemitismus vor, das weite Verbreitung gefunden hat. In einem Handlungsfeld, das durch hochgradige begriffliche Verunsicherung gekennzeichnet ist, verspricht die Definition als praktische Arbeitsgrundlage begriffliche Orientierung. Tatsächlich stellt die «Arbeitsdefinition» mit ihrer konkreten, ohne Fachterminologie auskommenden Sprache sowie mit anschaulichen Beispielen, die den Begriff Antisemitismus anhand typischer, immer wieder auftretender Phänomene verdeutlichen, inzwischen eine Grundlage für die Arbeit verschiedener Nutzer*innengruppen dar. Zudem erfolgte mit der Aufnahme bis dato nur wenig beleuchteter (israelbezogener) Aspekte von Antisemitismus eine zum Zeitpunkt der Formulierung der Definition (Anfang der 2000er Jahre) notwendige Aktualisierung der Diskussion.
Bei einer näheren Untersuchung offenbaren sich jedoch auch gravierende Mängel. Insbesondere ist die «Arbeitsdefinition» inkonsistent, widersprüchlich und ausgesprochen vage formuliert; mithin erfüllt sie nicht die Anforderungen guten Definierens. Die Kerndefinition des Antisemitismus ist zudem reduktionistisch. Sie hebt einige antisemitische Phänomene und Analyseebenen hervor, spart aber andere, wesentliche, sehr weitgehend aus. Dies gilt insbesondere für ideologische und diskursive Aspekte, beispielsweise den Antisemitismus als verschwörungstheoretisches Weltbild. Ebenso fehlt eine Erwähnung organisationssoziologischer Aspekte der Mobilisierung in Bewegungen und Parteien sowie deren Niederschlag in diskriminierenden institutionellen Regelungen und Praxen. Zudem können manche israelbezogenen Beispiele, die der Kerndefinition hinzugefügt sind, nur mithilfe weiterer Informationen über den Kontext als antisemitisch klassifiziert werden, da das Beschriebene mehrdeutig ist. Es tritt in komplexen, sich überlagernden Konfliktkonstellationen auf, bei denen eine Zuordnung zu einem spezifischen Problemkreis wie Antisemitismus oft nicht einfach möglich ist. Ein Beispiel sind die sogenannten doppelten Standards. Sie sind kein hinreichendes Kriterium, um eine antisemitische Fokussierung auf Israel von einer solchen zu unterscheiden, die mit den Spezifika israelischer Politik und ihrer weltpolitischen Bedeutung zusammenhängen.
In der Folge begünstigt die «Arbeitsdefinition» eine widersprüchliche und fehleranfällige Anwendungs praxis und führt zu Einschätzungen von Vorfällen oder Sachverhalten, die nicht auf klaren Kriterien basieren, sondern eher auf Vorverständnissen derer, die sie anwenden, oder auf unreflektiert übernommenen verbreiteten Deutungen. Die Anwendung der «Arbeitsdefinition» produziert die Fiktion eines kriteriengeleiteten, objektiven Beurteilens. Die Definition stellt prozedurale Legitimität für Entscheidungen zur Verfügung, die faktisch auf der Grundlage anderer, implizit bleibender Kriterien getroffen werden, welche weder in der Definition noch in den Beispielen festgelegt sind.
Die Schwächen der «Arbeitsdefinition» sind das Einfallstor für ihre politische Instrumentalisierung, etwa um gegnerische Positionen im Nahostkonflikt durch den Vorwurf des Antisemitismus moralisch zu diskreditieren. Dies hat relevante grundrechtliche Implikationen. Die zunehmende Implementierung der «Arbeitsdefinition» als quasi-rechtliche Grundlage von Verwaltungshandeln suggeriert Orientierung. Stattdessen ist sie faktisch ein zu Willkür geradezu einladendes Instrument. Dieses kann genutzt werden, um Grundrechte, insbesondere die Meinungsfreiheit, in Bezug auf missliebige israelbezogene Positionen zu beschneiden. Anders als die Bezeichnung «Arbeitsdefinition» suggeriert, findet auch keine Weiterentwicklung der Definition statt, um diese Schwächen zu beheben.
Fazit: Der Versuch, Probleme allgemeiner begrifflicher Klärung und universeller praktischer Einsetzbarkeit mithilfe der «Arbeitsdefinition Antisemitismus» zu lösen, muss insgesamt als gescheitert angesehen werden. Vor allem aufgrund ihrer handwerklichen Schwächen, ihrer defizitären Anwendungspraxis, ihres trotzdem teilweise verbindlichen rechtlichen Status und ihrer politischen Instrumentalisierbarkeit mit problematischen Implikationen für die Meinungsfreiheit kann die Verwendung der «Arbeitsdefinition Antisemitismus» nicht empfohlen werden. Eine mögliche Ausnahme könnten lediglich eng umgrenzte pädagogische Kontexte darstellen.
Wie die Entstehungsgeschichte der «Arbeitsdefinition Antisemitismus» und ihre weite Verbreitung deutlich machen, gibt es – auch angesichts einer weiter bestehenden Bedrohung durch gegenwärtigen Antisemitismus – einen großen Bedarf vonseiten verschiedener Institutionen nach in der Praxis anwendbaren Kriterien zur Identifikation antisemitischer Phänomene. Folglich ist die Entwicklung von klaren und kontextspezifischen Instrumenten für die Praxis dringend zu empfehlen.
Bei einer näheren Untersuchung offenbaren sich jedoch auch gravierende Mängel. Insbesondere ist die «Arbeitsdefinition» inkonsistent, widersprüchlich und ausgesprochen vage formuliert; mithin erfüllt sie nicht die Anforderungen guten Definierens. Die Kerndefinition des Antisemitismus ist zudem reduktionistisch. Sie hebt einige antisemitische Phänomene und Analyseebenen hervor, spart aber andere, wesentliche, sehr weitgehend aus. Dies gilt insbesondere für ideologische und diskursive Aspekte, beispielsweise den Antisemitismus als verschwörungstheoretisches Weltbild. Ebenso fehlt eine Erwähnung organisationssoziologischer Aspekte der Mobilisierung in Bewegungen und Parteien sowie deren Niederschlag in diskriminierenden institutionellen Regelungen und Praxen. Zudem können manche israelbezogenen Beispiele, die der Kerndefinition hinzugefügt sind, nur mithilfe weiterer Informationen über den Kontext als antisemitisch klassifiziert werden, da das Beschriebene mehrdeutig ist. Es tritt in komplexen, sich überlagernden Konfliktkonstellationen auf, bei denen eine Zuordnung zu einem spezifischen Problemkreis wie Antisemitismus oft nicht einfach möglich ist. Ein Beispiel sind die sogenannten doppelten Standards. Sie sind kein hinreichendes Kriterium, um eine antisemitische Fokussierung auf Israel von einer solchen zu unterscheiden, die mit den Spezifika israelischer Politik und ihrer weltpolitischen Bedeutung zusammenhängen.
In der Folge begünstigt die «Arbeitsdefinition» eine widersprüchliche und fehleranfällige Anwendungs praxis und führt zu Einschätzungen von Vorfällen oder Sachverhalten, die nicht auf klaren Kriterien basieren, sondern eher auf Vorverständnissen derer, die sie anwenden, oder auf unreflektiert übernommenen verbreiteten Deutungen. Die Anwendung der «Arbeitsdefinition» produziert die Fiktion eines kriteriengeleiteten, objektiven Beurteilens. Die Definition stellt prozedurale Legitimität für Entscheidungen zur Verfügung, die faktisch auf der Grundlage anderer, implizit bleibender Kriterien getroffen werden, welche weder in der Definition noch in den Beispielen festgelegt sind.
Die Schwächen der «Arbeitsdefinition» sind das Einfallstor für ihre politische Instrumentalisierung, etwa um gegnerische Positionen im Nahostkonflikt durch den Vorwurf des Antisemitismus moralisch zu diskreditieren. Dies hat relevante grundrechtliche Implikationen. Die zunehmende Implementierung der «Arbeitsdefinition» als quasi-rechtliche Grundlage von Verwaltungshandeln suggeriert Orientierung. Stattdessen ist sie faktisch ein zu Willkür geradezu einladendes Instrument. Dieses kann genutzt werden, um Grundrechte, insbesondere die Meinungsfreiheit, in Bezug auf missliebige israelbezogene Positionen zu beschneiden. Anders als die Bezeichnung «Arbeitsdefinition» suggeriert, findet auch keine Weiterentwicklung der Definition statt, um diese Schwächen zu beheben.
Fazit: Der Versuch, Probleme allgemeiner begrifflicher Klärung und universeller praktischer Einsetzbarkeit mithilfe der «Arbeitsdefinition Antisemitismus» zu lösen, muss insgesamt als gescheitert angesehen werden. Vor allem aufgrund ihrer handwerklichen Schwächen, ihrer defizitären Anwendungspraxis, ihres trotzdem teilweise verbindlichen rechtlichen Status und ihrer politischen Instrumentalisierbarkeit mit problematischen Implikationen für die Meinungsfreiheit kann die Verwendung der «Arbeitsdefinition Antisemitismus» nicht empfohlen werden. Eine mögliche Ausnahme könnten lediglich eng umgrenzte pädagogische Kontexte darstellen.
Wie die Entstehungsgeschichte der «Arbeitsdefinition Antisemitismus» und ihre weite Verbreitung deutlich machen, gibt es – auch angesichts einer weiter bestehenden Bedrohung durch gegenwärtigen Antisemitismus – einen großen Bedarf vonseiten verschiedener Institutionen nach in der Praxis anwendbaren Kriterien zur Identifikation antisemitischer Phänomene. Folglich ist die Entwicklung von klaren und kontextspezifischen Instrumenten für die Praxis dringend zu empfehlen.
The “Working Definition of Antisemitism” recognized by the International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) in 2016 is an instrument for collecting required data on and fighting antisemitism that has achieved wide dissemination. In a field of action characterized by a high degree of conceptual insecurity, the definition promises conceptual orientation by providing a basis for practical work. Indeed, with its concrete language devoid of technical jargon and its tangible examples that illustrate the concept of antisemitism using typical, recurring phenomena, the “Working Definition” has become the basis for the work of various groups of users. Moreover, the adoption of hitherto rarely examined aspects of antisemitism related to Israel provided an update for the discussion that was
necessary at the time the definition was formulated (inthe early 2000s).
However, a closer examination also reveals severe deficits. In particular, the “Working Definition” is inconsistent, contradictory and formulated very vaguely. It therefore does not satisfy the requirements of a good definition. Moreover, the core definition of antisemitism is reductionist. It emphasizes some antisemitic phenomena and levels of analysis but largely omits other essential ones. This applies in particular to ideological and discursive aspects, for
example antisemitism as a conspiracist worldview. Aspects of organizational sociology related to mobilization in movements and political parties as well as their consequences in discriminatory institutional regulations and practices are also not mentioned. Moreover, some of the examples related to Israel appended to the core definition can only be classified as antisemitic within context using further information, as what is described is ambiguous and occurs in complex, overlapping constellations of conflicts, which often do not readily allow singling out one
specific problem such as antisemitism. An example is afforded by the so-called double standards. They are
not sufficient criteria for distinguishing an antisemitic focus on Israel from one related to the specific features
of Israeli policies and their geopolitical significance.
As a consequence, the “Working Definition” is conducive to contradictory and error-prone application in practice and leads to assessments of incidents and facts that are not based on clear criteria but on the preconceptions of those applying it or on prevalent interpretations adopted without reflection. Applying the “Working Definition” creates the fiction of an objective assessment guided by criteria. The definition provides procedural legitimacy for decisions that are in fact taken on the basis of other criteria that remain implicit and are specified neither in the definition nor in
the examples.
The weaknesses of the “Working Definition” are the gateway to its political instrumentalization, for instance for morally discrediting opposing positions in the Arab-Israeli conflict with the accusation of antisemitism. This has relevant implications for fundamental rights. The increasing implementation of the “Working Definition” as a quasi-legal basis for administrative action promises regulatory potential. In fact, it is instead an instrument that all but invites arbitrariness. It can be used to abridge fundamental rights particularly freedom of speech with respect to
disfavoured positions on Israel. In contrast to what the designation “Working Definition” suggests, no
further development of the definition to rectify these weaknesses is occurring.
The bottom line is that the attempt to solve problems of general conceptual clarification and universal applicability by means of the “Working Definition of Antisemitism” must be seen to have failed. Mainly due to its technical weaknesses, the deficient practice of its application, its nevertheless partly binding legal status and its potential for political instrumentalization with problematic implications for freedom of speech, the use of the “Working Definition of Antisemitism” cannot be recommended. A potential exception could only lie in narrowly defined pedagogical contexts. As the genesis of the “Working Definition of Antisemitism” and its wide dissemination indicate, there is—
not least in view of the persisting threat from current antisemitism—a great need on the part of various
institutions for practicable criteria for identifying antisemitic phenomena. The development of clear and
context-specific instruments for practical application is therefore urgently recommended.
necessary at the time the definition was formulated (inthe early 2000s).
However, a closer examination also reveals severe deficits. In particular, the “Working Definition” is inconsistent, contradictory and formulated very vaguely. It therefore does not satisfy the requirements of a good definition. Moreover, the core definition of antisemitism is reductionist. It emphasizes some antisemitic phenomena and levels of analysis but largely omits other essential ones. This applies in particular to ideological and discursive aspects, for
example antisemitism as a conspiracist worldview. Aspects of organizational sociology related to mobilization in movements and political parties as well as their consequences in discriminatory institutional regulations and practices are also not mentioned. Moreover, some of the examples related to Israel appended to the core definition can only be classified as antisemitic within context using further information, as what is described is ambiguous and occurs in complex, overlapping constellations of conflicts, which often do not readily allow singling out one
specific problem such as antisemitism. An example is afforded by the so-called double standards. They are
not sufficient criteria for distinguishing an antisemitic focus on Israel from one related to the specific features
of Israeli policies and their geopolitical significance.
As a consequence, the “Working Definition” is conducive to contradictory and error-prone application in practice and leads to assessments of incidents and facts that are not based on clear criteria but on the preconceptions of those applying it or on prevalent interpretations adopted without reflection. Applying the “Working Definition” creates the fiction of an objective assessment guided by criteria. The definition provides procedural legitimacy for decisions that are in fact taken on the basis of other criteria that remain implicit and are specified neither in the definition nor in
the examples.
The weaknesses of the “Working Definition” are the gateway to its political instrumentalization, for instance for morally discrediting opposing positions in the Arab-Israeli conflict with the accusation of antisemitism. This has relevant implications for fundamental rights. The increasing implementation of the “Working Definition” as a quasi-legal basis for administrative action promises regulatory potential. In fact, it is instead an instrument that all but invites arbitrariness. It can be used to abridge fundamental rights particularly freedom of speech with respect to
disfavoured positions on Israel. In contrast to what the designation “Working Definition” suggests, no
further development of the definition to rectify these weaknesses is occurring.
The bottom line is that the attempt to solve problems of general conceptual clarification and universal applicability by means of the “Working Definition of Antisemitism” must be seen to have failed. Mainly due to its technical weaknesses, the deficient practice of its application, its nevertheless partly binding legal status and its potential for political instrumentalization with problematic implications for freedom of speech, the use of the “Working Definition of Antisemitism” cannot be recommended. A potential exception could only lie in narrowly defined pedagogical contexts. As the genesis of the “Working Definition of Antisemitism” and its wide dissemination indicate, there is—
not least in view of the persisting threat from current antisemitism—a great need on the part of various
institutions for practicable criteria for identifying antisemitic phenomena. The development of clear and
context-specific instruments for practical application is therefore urgently recommended.
Antisemitism Antisemitism: Monitoring Antisemitism: Education against Law Main Topic: Antisemitism Politics
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Gutachten zur «Arbeitsdefinition Antisemitismus» der IHRA. . October 2019: https://archive.jpr.org.uk/object-947
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