Abstract: Eine internationale Mobilisierung des israelbezogenen Antisemitismus durch Organisationen, die der islamistischen Muslimbruderschaft und den Terrorgruppen Hamas und PFLP nahestehen oder mit ihnen sympathisieren, bildete den Hintergrund für zahlreiche Gewaltvorfälle und Bedrohungen von Jüdinnen_Juden im vergangenen Mai. Viele antisemitische Vorfälle ereigneten sich im Umfeld antiisraelischer Versammlungen, doch war für jüdische Communities die Bedrohung durch Antisemitismus vielfältig im Alltag spürbar. Dies geht aus dem gemeinsamen Bericht des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (Bundesverband RIAS) und des Internationalen Institut für Bildung, Sozial- und Antisemitismusforschung (IIBSA) über antisemitische Vorfälle im Kontext der Eskalation der Gewalt im Nahen Osten im Mai 2021 hervor.
Der Bericht „Mobilisierungen von israelbezogenem Antisemitismus im Bundesgebiet 2021” befasst sich mit der internationalen und bundesweiten Mobilisierung von israelbezogenem Antisemitismus im Mai 2021 sowie mit den zwischen dem 9. und 24. Mai 2021 bekannt gewordenen antisemitischen Vorfällen in Deutschland im Zeitraum des bewaffneten Konflikts zwischen der Hamas und Israel.
Die Analysen des Forschungsinstituts IIBSA zeigen eine breite Mobilisierung des Antisemitismus, die von links/antiimperialistischem Spektrum über die politische Mitte bis hin zu nationalistischen, neonazistischen und islamistischen Milieus reichte. Verschiedene internationale Akteur_innen und ihre Sympathisant_innen waren an der Aufstachelung von antisemitischem Hass, Gewalt oder Terrorismus beteiligt, etwa die Palästinensische Front zur Befreiung Palästinas (PFLP), die Millî Görüş-Bewegung, die Grauen Wölfe und das türkische Präsidium für religiöse Angelegenheiten, Diyanet. Eine besondere Rolle nahmen hierbei bereits im Vorfeld der kriegerischen Auseinandersetzung Organisationen ein, die der islamistischen Muslimbruderschaft und den Terrorgruppen Hamas nahestehen oder mit ihnen sympathisieren, wie etwa die Palästinensische Gemeinschaft in Deutschland (PGD).
Zeitgleich zur Eskalation im israelisch-palästinensischen Konflikt zwischen dem 9. und dem 24. Mai 2021 dokumentierte der Bundesverband RIAS deutschlandweit 261 antisemitische Vorfälle mit einem entsprechenden Bezug – im Schnitt mehr als 16 Vorfälle am Tag. Bekannt wurden u.a. 10 Angriffe, 22 gezielte Sachbeschädigungen und 18 Bedrohungen.
Dabei war Antisemitismus nicht nur auf den antiisraelischen Versammlungen zu beobachten, sondern ein alltagsprägendes Phänomen für Jüdinnen_Juden: Er begegnete ihnen am Arbeitsplatz, in Gesprächen und Diskussionen im Bekannten- oder Freundeskreis, im Umfeld von Synagogen, während zufälliger Begegnungen im Supermarkt, im öffentlichen Personennahverkehr, auf der Straße und im eigenen Wohnumfeld.
Abstract: Spätestens mit der Verkündigung eines Einreisestopps für Drittstaatler_innen und einer weltweiten Reisewarnung durch das Auswärtige Amt am 17.März sowie mit dem Inkrafttreten von Kontaktbeschränkungen am 22.März 2020 ist die Covid19-Pandemie auch in den Alltag und das Bewusstsein der Menschen in Deutschland gerückt. Dies hatte in dreierlei Hinsicht Auswirkungen auf das Problemfeld Antisemitismus:
Erstens beobachtete der Bundesverband RIAS von Beginn der Pandemie an das Aufkommen antisemitischer Mythen unterschiedlicher Art zur Entstehung und Verbreitung des Covid-19-Virus, aber auch zu den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Zweitens wirkten sich jene Maßnahmen auch auf zahlreiche Formen antisemitischer Vorfälle aus: Als beispielsweise Fußballstadien, Kneipen und Clubs geschlossen, der ÖPNV wesentlich weniger frequentiert wurde, kam es an diesen spezifischen Tatorten auch zu deutlich weniger antisemitischen Vorfällen. Antisemitische Vorfälle, die sich im Internet ereigneten, waren von diesen Beschränkungen gleichzeitig nicht betroffen. Drittens erschwerten die Kontaktbeschränkungen jedoch auch die Arbeit gegen Antisemitismus beispielsweise durch zivilgesellschaftliche Institutionen deutlich. Unter ihnen litt unter anderem die Pflege des Meldenetzwerks
und der vertrauensvolle Kontakt zu Betroffenen-Communities. Es steht somit zu befürchten, dass der Bundesverband RIAS und die regionalen Meldestellen von weniger antisemitischen Vorfällen erfahren haben, als dies sonst der Fall wäre.
An diesen drei Aspekten zeigt sich bereits, dass die Covid-19-Pandemie auf vielschichtige und zum Teil gegenläufige Art Antisemitismus, Gelegenheitsstrukturen für die Äußerungen antisemitischer Inhalte und die Arbeit gegen Antisemitismus beeinflusst hat. Wenngleich sich die unterschiedlichen antisemitischen Artikulations- und
Erscheinungsformen im dokumentierten Zeitraum durchaus überlagerten, lassen sich idealtypisch dennoch in Deutschland unterschiedliche Phasen innerhalb der ersten drei Monaten der Pandemie erkennen, in denen einzelne jeweils stärker hervortraten– beginnend mit den ersten massiven staatlichen Maßnahmen am 17.März: Zunächst spielten sich antisemitische Äußerungen insbesondere im Online-Bereich ab, häufig verbunden mit nicht explizit antisemitischen Verschwörungsmythen, die schnell eine enorme Verbreitung erfuhren. Als sich in einer zweiten Phase auch jüdisches Leben in Deutschland mehr und mehr in den digitalen Raum verlagerte, war dies mit massiven
Formen verletzenden Verhaltens verbunden, die sich direkt gegen Jüdinnen_Juden richteten. In einer dritten Phase manifestierten sich antisemitische Deutungen nicht mehr nur online, also zum Beispiel in Chatgruppen und in Sozialen Medien, sondern auch auf einer Vielzahl von Demonstrationen im gesamten Bundesgebiet. So groß der Zuspruch zu diesen Demonstrationen und so hoch die Zahl der Teilnehmer_innen zunächst teilweise auch war, so stark ließ diese Protestdynamik nach vehementer und einhelliger Kritik in der Öffentlichkeit auch wieder nach – verbunden mit einer
weiteren Explizierung antisemitischer Inhalte. Parallel zu diesen Phasen erfassten der Bundesverband RIAS und mehrere regionale Meldestellen eine Vielzahl antisemitischer Vorfälle mit unmittelbarem oder mittelbarem Bezug zur Covid-19-Pandemie.
Abstract: In der polnischen Kleinstadt Pruchnik schleiften Menschen an Karfreitag 2019 eine Strohpuppe durch die Straßen, hängten sie an einen Mast, schlugen, köpften und zündeten sie an. Die Puppe war mit Hakennase und orthodox-jüdischer Kopfbedeckung und Haartracht entsprechend stereotyper antisemitischer Vorstellungen gestaltet. Sie trug die Bezeichnung „Judas 2019“. Der Brauch dient der symbolisch-rituellen „Bestrafung“ der biblischen Figur Judas Iskariot für seinen Verrat an Jesus Christus und reicht mindestens bis in das 18.Jahrhundert zurück. Der Vorfall in Pruchnik sorgte für internationales Aufsehen. Der World Jewish Congress (WJC) übte Kritik und auch die katholische Kirche distanzierte sich.1 Allerdings finden sich vergleichbare Rituale nicht allein in Pruchnik, sondern auch in vielen anderen Gegenden der Welt: in Griechenland, in Spanien, in Lateinamerika – und auch in Deutschland, mit besonderem Schwerpunkt in Bayern. Auch hier wird an den Kartagen, meistens zu Karsamstag, ein Osterfeuer angezündet, das oft „Judasfeuer“ oder „Jaudus“ genannt wird. Häufig werden auch hier Puppen, wenn auch ohne stereotype „jüdische“ Merkmale, angezündet. Weshalb dieser Brauch in Bayern dennoch antisemitisch ist, welchen historischen Hintergrund er hat und wo genau in Bayern er besonders häufig auftritt, ist Gegenstand dieses Berichts.