Abstract: Demonstrationen zum Nahostkonflikt, Übergriffe von Geflüchteten auf Jüdinnen und Juden – bei solchen Ereignissen steht oft die Frage im Mittelpunkt: Ist Antisemitismus unter Muslim*innen oder unter Menschen mit Migrationshintergrund besonders stark verbreitet? Gibt es einen „importierten Antisemitismus“?
In der gesamten Gesellschaft ist Antisemitismus weit verbreitet – dazu liegen zahlreiche wissenschaftliche Studien vor. Weniger Forschungsergebnisse gibt es hingegen zur Frage, wie verbreitet Antisemitismus unter der Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist. Das Gleiche gilt für die über fünf Millionen Muslim*innen in Deutschland.
In einer MEDIENDIENST-Expertise stellt die Antisemitismusforscherin Dr. Sina Arnold die wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema vor und leitet daraus Handlungsempfehlungen für Journalist*innen ab.
Antisemitische Einstellungen: Gemischte Ergebnisse aus der Forschung
Die Forschung kommt insgesamt zu einem gemischten Ergebnis: Je nachdem, um welche Ausprägungen des Antisemitismus es geht, weisen Personen mit Migrationshintergrund und Muslim*innen höhere oder geringere antisemitische Einstellungen auf als Personen ohne Migrationshintergrund und Nicht-Muslim*innen:
Beim klassischen Antisemitismus ist die Forschungslage bezüglich Menschen mit Migrationshintergrund widersprüchlich: Manche Studien finden höhere, manche niedrigere und manche gleiche Werte im Vergleich zu Menschen ohne Migrationshintergrund. Unter Muslim*innen ist die Forschungslage klarer: Sie weisen allgemein höhere Zustimmungswerte zu klassischem Antisemitismus auf als Nicht-Muslim*innen.
Sekundärer Antisemitismus ist unter Menschen mit Migrationshintergrund weniger weit verbreitet als unter Menschen ohne Migrationshintergrund. Zwischen Muslim*innen und Nicht-Muslim*innen gibt es kaum Unterschiede.
Israelbezogener Antisemitismus ist unter Menschen mit Migrationshintergrund und Muslim*innen weiter verbreitet als unter Menschen ohne Migrationshintergrund. Dasselbe gilt für Muslim*innen im Vergleich zu Nicht-Muslim*innen.
Die Forschung zeigt außerdem: Die Kategorie "Migrationshintergrund" ist nur bedingt aussagekräftig. Ein wichtiger Faktor für antisemitische Einstellungen ist die Aufenthaltsdauer: Die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen schwindet, je länger Personen in Deutschland leben. Laut Arnold erlernen sie eine "soziale Norm gegen Antisemitismus" und kommen an Schulen mit der Geschichte des Nationalsozialismus in Kontakt, was sie möglicherweise für das Thema sensibilisiere. Eine weitere Rolle spielt, ob Personen eingebürgert wurden und aus welchem Herkunftsland und welcher Region sie kommen.
Antisemitischen Handlungen: Meistens rechte oder rechtsextreme Tatmotivation
Antisemitismus zeigt sich nicht nur in Einstellungen, sondern findet auch Ausdruck in Handlungen, etwa in Angriffen auf Juden und Jüdinnen oder jüdische Einrichtungen. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) unterschiedet bei der Erfassung antisemitischer Straftaten grundsätzlich nicht nach Migrationshintergrund oder Glaubenszugehörigkeit, sondern nur nach der politischen Einstellung. Die Polizei geht dabei zum Großteil von rechtsextremen Täter*innen aus – bei den rund 3.000 erfassten antisemitischen Straftaten 2021 von rund 84,3 Prozent rechtsextremen Täter*innen. An der Einordnung gibt es aber Kritik. Bei 4,2 Prozent der Vorfälle wird "ausländische Ideologie" als Motiv vermutet. Rund 1,9 Prozent der Vorfälle werden dem Bereich "religiöse Ideologie" zugeordnet, was vor allem auf „islamistisch motivierten Terrorismus/Extremismus“ verweist.Quelle
Zudem gibt es die Jahresübersicht des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS e.V.). Sie sammelt antisemitische Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze. Sie enthält zwar nicht die Staatsbürgerschaft möglicher Täter*innen, aber wenn möglich deren politisch-weltanschaulichen Hintergrund. Von den 2.738 im Jahr 2021 registrierten Fällen wurden 17 Prozent als "rechtsextrem/rechtspopulistisch" eingestuft, 16 Prozent als "verschwörungsideologisch", 9 Prozent der Fälle dem antiisraelischen Aktivismus zugeordnet und 1 Prozent dem "islamisch/islamistischen" Milieu.Quelle
Auch die Wahrnehmung der Betroffenen, also Juden und Jüdinnen in Deutschland, kann einen Hinweis darauf geben, von wem antisemitische Handlungen ausgehen.
In einer Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte von 2018 nahmen in Deutschland 41 Prozent der befragten Juden und Jüdinnen, die persönliche Diskriminierungserfahrungen gemacht hatten, bei Täter*innen einen "extremist Muslim view" an. Unklar ist hier, aufgrund welcher Eigenschaften diese Einordnung vorgenommen wurde, und ob Stereotype eine Rolle gespielt haben könnten.Quelle
Eine weitere Umfrage unter 553 Jüdinnen und Juden in Deutschland zeigte 2017, dass 70 Prozent Sorge hatten, "dass der Antisemitismus in Deutschland zunehmen wird, weil viele Flüchtlinge antisemitisch eingestellt sind". 58 Prozent fühlen sich "in Deutschland als jüdische Person zunehmend unsicher aufgrund der derzeitigen Zuwanderung nach Deutschland". Stärkere Sorgen bereiten rechtspopulistische Strömungen (75 Prozent) und der Alltagsantisemitismus. 84 Prozent der Befragten finden, dass "der Antisemitismus auch ohne Flüchtlinge ein Problem in Deutschland ist."Quelle
Abstract: This article analyzes the attitudes of 25 refugees from Syria, Afghanistan, and Iraq, now living in Germany, toward Jews, the Holocaust, Israel, and the Middle East conflict. It reveals both anti-Jewish and anti-Israel sentiments among many of the respondents, as well as a lack of knowledge about the Holocaust, and a wide range of attitudes between individual participants. Some of the factors influencing attitudes include everyday knowledge in the countries of origin, Arab nationalism, as well as specific religious and ethnic identities. The findings are discussed in relation to other recent studies, and against the backdrop of German media discourse, current debates about an “imported” antisemitism among refugees and migrants, and the relationship between experiences of racial discrimination and anti-Jewish attitudes.