Abstract: In Frankreich, wo heute sowohl eine der größten muslimischen Bevölkerungsgruppen als auch die größte europäische jüdische Gemeinde lebt, ist seit dem Jahr 2000 bzw. seit dem Ausbruch der Zweiten Intifada vielfach die Rede von einem "neuen" Antisemitismus. Manifest wurde dieser anhand einer deutlichen Zunahme antisemitischer Vorfälle, Beschimpfungen und tätlicher Übergriffe auf jüdische Personen oder Einrichtungen, u. a. ausgehend von muslimischen Jugendlichen. Im März 2012 und im Jänner 2015 kulminierte dies in zwei antisemitisch motivierten, islamistisch-jihadistischen Mordanschlägen in Toulouse und in Paris. Diese Problematik bildet den Hintergrund der vorliegenden Dissertation, wobei der Schwerpunkt auf Quellen- und Diskursanalysen liegt: So beschäftigen sich die einzelnen Kapitel der Arbeit mit verschiedenen Diskursen um und Manifestationen von Palästina-Solidarität, Antizionismus und Antisemitismus unter MuslimInnen im zeitgenössischen Frankreich. Dies erfolgte über eine qualitative, selektive Herangehensweise, wobei jedoch zentrale Aspekte der komplexen und vielschichtigen Thematik erschlossen wurden: Nach einem Abriss zur Immigrationsgeschichte und soziopolitischen Situation von MuslimInnen in Frankreich und einer Analyse der Debatten im französischen wissenschaftlichen Diskurs zur Frage des Antisemitismus unter MuslimInnen folgen in vier Analysekapitel umfassende Detailstudien. Dies beginnt mit Ausführungen zu Palästina-Solidarität und Antizionismus seit den späten 1960er Jahren in Frankreich, mit einem Schwerpunkt auf den Pro-Gaza-Demonstrationen im Sommer 2014. Anschließend setzt sich ein zweites Kapitel mit Nachwirkungen der französischen Kolonialvergangenheit sowie mit der zeitgenössischen Erinnerungspolitik und Gedenkkultur auseinander, wobei ein besonderer Fokus auf neuen Formen von Holocaustrelativierung sowie auf Wahrnehmungen des Shoah-Gedenkens seitens muslimischer Medien und Personen liegt. Ein drittes Kapitel widmet sich der Anschlagsserie von Toulouse und Montauban im März 2012, ihrer divergenten Rezeption sowie der weiteren Entwicklung in Hinblick auf antisemitisch motivierte islamistische Anschläge. Abschließend wird in einem letzten Kapitel aufgezeigt, inwiefern und auf welche Weise sich Kritik an der französischen Kolonialvergangenheit, Palästina-Solidarität, Antizionismus und Antisemitismus in den Musiktexten französisch-muslimischer RapperInnen widerspiegeln und von dieser weitertradiert werden. Miteinbezogen wurde für diese Analysen auch eine Vielzahl an bisher nur wenig oder kaum untersuchten und erstmals ins Deutsche übertragenen Quellen - neben sozialwissenschaftlichen Publikationen zur Frage des "neuen" Antisemitismus in Frankreich und ausgewählten Artikeln der nationalen Medienberichterstattung betrifft dies insbesondere Quellen aus dem Online- sowie dem populärkulturellen Bereich. Unweigerlich ergibt sich aus diesen Diskursen ein Neben- und Gegeneinander divergierender Ansichten, Geschichtsdeutungen und Weltbilder, welche über diverse "Diskursträger" und verschiedenste "Diskursteilnehmer" getragen, verbreitet und transformiert werden. Die Dissertation nähert sich diesem "umkämpften (Kommunikations-)Raum" (Habermas), in welchem die verschiedenen thematisierten pro-palästinensischen, antizionistischen und antisemitischen Manifestationen zutage treten, analytisch an und versucht diese in ihren größeren zeitgeschichtlichen und soziopolitischen Kontext einzuordnen.