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Die Implementation der IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus ins deutsche Recht – eine rechtliche Beurteilung

Translated Title

The implementation of the IHRA working definition of antisemitism into German law – a legal assessment

Author(s)

Publication Name

Publication Date

18 December 2023

Abstract

Diese Stellungnahme wurde am 5. Dezember 2023 an die Fraktionsvorsitzenden, an die Mitglieder der Ausschüsse Inneres und Recht sowie an die Ausschussbüros der anderen beteiligten Ausschüsse des Bundestags versandt. Nachdem in der Presse über diese Stellungnahme berichtet wurde, haben wir uns entschieden, sie zu veröffentlichen.
Die Nationale Strategie der Bundesregierung gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben (NASAS) und ein Entschließungsantrag der Ampelkoalition im Bundestag sehen eine weitreichende rechtliche Implementation der sogenannten IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus als Regulierungsinstrument vor; Landtagsfraktionen planen offenbar ähnliches. Aus juristischer Sicht ist eine Implementierung der IHRA-Arbeitsdefinition als Regulierungsinstrument aus folgenden Gründen problematisch, die unten ausgeführt werden:

Die IHRA-Arbeitsdefinition ist ausdrücklich als nicht rechtsverbindlicher Text von der IHRA verabschiedet worden und auch nicht wie ein solcher formuliert. Sie dient dem Monitoring. Sie zum faktisch bindenden Text zu machen, geht gegen ihre Rechtsnatur. Sie ist viel zu unpräzise, um Rechtssicherheit zu erzeugen oder Behördenpraxis zu etablieren. Zudem ist der Status der elf Anwendungsbeispiele, die nicht zur Definition gehören, aber oft mit hinzugezogen werden, völlig unklar.
Die Annahme der IHRA-Arbeitsdefinition als Regulierungsinstrument würde teilweise weitreichende verfassungsrechtliche Verwerfungen erzeugen, die nicht überblickt werden können. Insbesondere ist eine darauf gestützte Behördenpraxis ganz unvorhersehbar. Erfahrungen aus Kontexten, in denen die IHRA-Arbeitsdefinition als Regulierungsinstrument diente, zeigen, dass sie für erhebliche Einschränkungen von Grundrechten genutzt wird – sehr häufig auch gegen Juden, die die Politik der jeweiligen Regierung Israels kritisieren.
Eine Annahme der IHRA-Arbeitsdefinition würde Verstöße gegen höherrangiges Recht, insbesondere das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention, nach sich ziehen oder zumindest wahrscheinlich machen. Das betrifft insbesondere das Recht der freien Meinungsäußerung und seine Anwendungen etwa im Versammlungsrecht und im politischen Strafrecht. Es betrifft auch die Kunstfreiheit, für die die IHRA-Arbeitsdefinition nicht passt, sowie die Freiheit von Forschung und Lehre.
Die IHRA-Arbeitsdefinition zur prinzipiellen Grundlage von Förderungsrichtlinien zu machen, ist rechtlich problematisch. Offensichtlich ist das für die Forschungsförderung. Denn die Definition des Antisemitismus ist selbst Gegenstand der Wissenschaft; ihr kann eine bestimmte Definition nicht vorgeschrieben werden. Aber auch bei der Kunstfreiheit fragt sich, ab wann die Kunst nicht mehr „frei“ ist (wie das Grundgesetz fordert), weil eine zu extensive Nutzung der IHRA-Arbeitsdefinition und eine Selbstzensur auch dort eingreifen, wo es die Bekämpfung von Antisemitismus nicht mehr erfordert. Schließlich kann die Meinungsfreiheit betroffen sein, wenn früher in anderem Kontext gemachte Aussagen in die Beurteilung der Förderwürdigkeit mit einbezogen werden.
Die IHRA-Definition ist für eine antidiskriminierungsrechtliche Bekämpfung von Antisemitismus nicht erforderlich; sie ist teilweise hinderlich für die wirksame Bekämpfung der Diskriminierung von Jüd:innen. Das Antidiskriminierungsrecht kennt keine vergleichbare staatliche Definition von Rassismus, Sexismus oder Homo- und Transphobie.
Im Aufenthalts- und Asylrecht würde die Implementierung der IHRA-Definition erhebliche Probleme schaffen und kann zu Konflikten mit der Genfer Flüchtlingskonvention führen, die enge Voraussetzungen stellt.
Diese kurze vorläufige Handreichung beschränkt sich auf diese juristischen Fragen; eine inhaltliche Bewertung der IHRA-Arbeitsdefinition nimmt sie nicht vor. Die notwendige ausführliche juristische Beurteilung einer Implementation scheint in Deutschland noch nicht vorgenommen worden zu sein. Anders ist das in der Schweiz, wo zwei Wissenschaftlerinnen im Auftrag der Fachstelle für Rassismusbekämpfung des Eidgenössischen Departements des Innern 2020 eine ausführliche Juristische Analyse der von der IHRA angenommenen Arbeitsdefinition von Antisemitismus erstellt und mehrere Problempunkte identifiziert haben.

Translated Abstract

This statement was sent to the parliamentary group leaders, the members of the Committees on Home Affairs and Legal Affairs, and the committee offices of the other involved Bundestag committees on December 5, 2023. Following press coverage of this statement, we have decided to publish it.
The Federal Government's National Strategy against Antisemitism and for Jewish Life ( NASAS ) and a motion for a resolution by the "traffic light" coalition in the Bundestag envisage a far-reaching legal implementation of the so-called IHRA Working Definition of Antisemitism as a regulatory instrument; parliamentary groups in the state parliament are apparently planning similar measures. From a legal perspective, implementing the IHRA Working Definition as a regulatory instrument is problematic for the following reasons, which are outlined below:

The IHRA Working Definition was expressly adopted by the IHRA as a non-legally binding text and is not formulated as such. It serves as a monitoring tool. Making it a de facto binding text would violate its legal nature. It is far too imprecise to create legal certainty or establish official practice. Furthermore, the status of the eleven application examples, which are not part of the definition but are often included, is completely unclear.
Adopting the IHRA Working Definition as a regulatory instrument would, in some cases, create far-reaching constitutional distortions that cannot be foreseen. In particular, the administrative practices based on it are highly unpredictable . Experience from contexts in which the IHRA Working Definition has served as a regulatory instrument shows that it is used to impose significant restrictions on fundamental rights – very often against Jews who criticize the policies of the respective Israeli government.
Adoption of the IHRA working definition would entail, or at least make likely, violations of higher-ranking law, in particular the Basic Law and the European Convention on Human Rights. This particularly affects the right to freedom of expression and its applications, for example, in the right of assembly and political criminal law. It also affects artistic freedom, for which the IHRA working definition does not apply, as well as freedom of research and teaching.
Making the IHRA working definition the fundamental basis for funding guidelines is legally problematic. This is obviously problematic for research funding. The definition of antisemitism is itself a subject of scholarship; a specific definition cannot be prescribed. But even with artistic freedom, the question arises as to when art ceases to be "free" (as required by the Basic Law), because overly extensive use of the IHRA working definition and self-censorship interfere even where the fight against antisemitism no longer requires it. Finally, freedom of expression can be affected if statements made previously in a different context are included in the assessment of eligibility for funding.
The IHRA definition is not necessary for combating antisemitism under anti-discrimination law ; it partially hinders the effective fight against discrimination against Jews. Anti-discrimination law does not have a comparable state definition of racism, sexism, or homophobia and transphobia.
In residence and asylum law, the implementation of the IHRA definition would create considerable problems and could lead to conflicts with the Geneva Refugee Convention, which sets strict requirements.
This brief preliminary guide is limited to these legal questions; it does not provide a substantive assessment of the IHRA working definition. The necessary detailed legal assessment of its implementation does not appear to have been conducted in Germany yet. The situation is different in Switzerland, where two researchers commissioned by the Federal Department of Home Affairs' Unit for Combating Racism prepared a detailed legal analysis of the IHRA's working definition of antisemitism in 2020 and identified several problem areas.

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Bibliographic Information

Ambos, Kai, Barskanmaz, Cengiz, Bönnemann, Maxim, Fischer-Lescano, Andreas, Goldmann, Matthias, Anna Katharina, Mangold, Markard, Nora, Michaels, Ralf, Montag, Jerzy, Steinbeis, Maximilian, Tabbara, Tarik, Wihl, Tim, Zechlin, Lothar Die Implementation der IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus ins deutsche Recht – eine rechtliche Beurteilung. VerfBlog. 18 December 2023:  https://archive.jpr.org.uk/10.59704/e07cea2f878741c5