Abstract: Insbesondere für die deutsche Linke hat der Nahost- und Antisemitismusstreit eine immense Bedeutung und Sprengkraft. Er ist Dauerthema in linken Zeitschriften und Veranstaltungen sowie beliebter Gegenstand der Agitation konservativer Medien gegen die Linke. Gelegentliche Eskalationen zu verschiedenen Anlässen sorgen dafür, dass die Problematik ganz oben auf der politischen Agenda bleibt. Dabei verläuft die Auseinandersetzung auch innerhalb der Linken selten solidarisch. Starke Identifikationen sowie extreme und zudem häufig antagonistische Positionierungen und Blickwinkel kennzeichnen die Debatte. Regelmäßig kommt es auch zu sehr persönlichen und verletzenden Vorwürfen und Angriffen; sogar vor physischer Gewalt wird nicht haltgemacht. Und im Gewand dieser Debatte wird immer wieder auch verhandelt, was eigentlich (noch) links ist.
Ziel dieser kommentierten Bibliografie zur Thematik Linke, Nahostkonflikt und Antisemitismus ist es, zu einer Versachlichung der Diskussion beizutragen. Sie will den einseitigen Positionen, schablonenhaften Schuldzuschreibungen und ritualisierten Phrasen komplexere Perspektiven entgegensetzen, Zugang zu Hintergrundwissen und «Fakten» sowie zu den Bedingungen ermöglichen, die diese erst zu solchen machen, und somit Anregungen zur (selbst-)kritischen Reflexion geben. Die Broschüre soll zudem einen leichten Einstieg in die inzwischen doch recht umfassende Literatur zum Thema bieten. Denn insbesondere in der Zeit nach 1990 ist eine Vielzahl von relevanten Studien und ernsthaften Debattenbeiträgen erschienen, die eine gute Grundlage bieten für die fundierte und kritische Auseinandersetzung mit spezifischen Traditionen, ideologischen Erbschaften, Prägungen und grundlegenden Ambivalenzen linker Politik in Hinblick auf den Nahostkonflikt. Im Folgenden werden die wichtigsten dieser Beiträge in Form von kurzen Inhaltsangaben und Kommentierungen vorgestellt. Als Sammlung von Basistexten ist diese Broschüre vor allem für die Nutzung in der politischen Bildungsarbeit gedacht. Doch auch Studierende, Wissenschaftler/innen und alle anderen Interessierten werden sich mit ihrer Hilfe schnell einen Überblick zum aktuellen Stand der Forschung verschaffen können.
In die Darstellung wurden vor allem Bücher aufgenommen, die Grundlegendes zum Verständnis linker Kontroversen zum Thema in einer bestimmten Epoche leisten (zum Beispiel zur Zionismus- Debatte in der Arbeiter/innenbewegung des 19. Jahrhunderts) oder die wesentliche Begriffe beziehungsweise theoretische Perspektiven in die Diskussion eingeführt haben (beispielsweise «antiimperialistischer Antizionismus»). Neben recht bekannten, weitverbreiteten und häufig zitierten Publikationen sind auch solche berücksichtigt, die hierzulande bisher weniger rezipiert wurden – sei es, weil sie nicht in deutscher Sprache veröffentlicht wurden oder weil die Texte aus anderen Gründen nicht leicht zugänglich sind. Soweit Zitate vom Englischen ins Deutsche übertragen wurden, stammen die Übersetzungen vom Autor. Nicht alle besprochenen Bücher werden im gleichen Umfang behandelt. Dahinter steht durchaus die Absicht, eine Gewichtung vorzunehmen und unnötige Wiederholungen zu vermeiden. Stattdessen wird die jeweilige Bedeutung der Texte für die Gesamtdebatte herausgestellt. Wo immer es möglich ist, werden die Leser/ innen bei Monografien auch auf kürzere Texte der entsprechenden Autor/ innen (die für Seminare und Lesekreise geeignet sind) oder Online-Ressourcen hingewiesen. Die in fünf Abschnitte unterteilte Darstellung beschränkt sich im Wesentlichen auf wissenschaftliche Beiträge
Abstract: Mit der im Jahr 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) anerkannten «Arbeitsdefinition Antisemitismus» liegt ein Instrument für die notwendige Erfassung und Bekämpfung von Antisemitismus vor, das weite Verbreitung gefunden hat. In einem Handlungsfeld, das durch hochgradige begriffliche Verunsicherung gekennzeichnet ist, verspricht die Definition als praktische Arbeitsgrundlage begriffliche Orientierung. Tatsächlich stellt die «Arbeitsdefinition» mit ihrer konkreten, ohne Fachterminologie auskommenden Sprache sowie mit anschaulichen Beispielen, die den Begriff Antisemitismus anhand typischer, immer wieder auftretender Phänomene verdeutlichen, inzwischen eine Grundlage für die Arbeit verschiedener Nutzer*innengruppen dar. Zudem erfolgte mit der Aufnahme bis dato nur wenig beleuchteter (israelbezogener) Aspekte von Antisemitismus eine zum Zeitpunkt der Formulierung der Definition (Anfang der 2000er Jahre) notwendige Aktualisierung der Diskussion.
Bei einer näheren Untersuchung offenbaren sich jedoch auch gravierende Mängel. Insbesondere ist die «Arbeitsdefinition» inkonsistent, widersprüchlich und ausgesprochen vage formuliert; mithin erfüllt sie nicht die Anforderungen guten Definierens. Die Kerndefinition des Antisemitismus ist zudem reduktionistisch. Sie hebt einige antisemitische Phänomene und Analyseebenen hervor, spart aber andere, wesentliche, sehr weitgehend aus. Dies gilt insbesondere für ideologische und diskursive Aspekte, beispielsweise den Antisemitismus als verschwörungstheoretisches Weltbild. Ebenso fehlt eine Erwähnung organisationssoziologischer Aspekte der Mobilisierung in Bewegungen und Parteien sowie deren Niederschlag in diskriminierenden institutionellen Regelungen und Praxen. Zudem können manche israelbezogenen Beispiele, die der Kerndefinition hinzugefügt sind, nur mithilfe weiterer Informationen über den Kontext als antisemitisch klassifiziert werden, da das Beschriebene mehrdeutig ist. Es tritt in komplexen, sich überlagernden Konfliktkonstellationen auf, bei denen eine Zuordnung zu einem spezifischen Problemkreis wie Antisemitismus oft nicht einfach möglich ist. Ein Beispiel sind die sogenannten doppelten Standards. Sie sind kein hinreichendes Kriterium, um eine antisemitische Fokussierung auf Israel von einer solchen zu unterscheiden, die mit den Spezifika israelischer Politik und ihrer weltpolitischen Bedeutung zusammenhängen.
In der Folge begünstigt die «Arbeitsdefinition» eine widersprüchliche und fehleranfällige Anwendungs praxis und führt zu Einschätzungen von Vorfällen oder Sachverhalten, die nicht auf klaren Kriterien basieren, sondern eher auf Vorverständnissen derer, die sie anwenden, oder auf unreflektiert übernommenen verbreiteten Deutungen. Die Anwendung der «Arbeitsdefinition» produziert die Fiktion eines kriteriengeleiteten, objektiven Beurteilens. Die Definition stellt prozedurale Legitimität für Entscheidungen zur Verfügung, die faktisch auf der Grundlage anderer, implizit bleibender Kriterien getroffen werden, welche weder in der Definition noch in den Beispielen festgelegt sind.
Die Schwächen der «Arbeitsdefinition» sind das Einfallstor für ihre politische Instrumentalisierung, etwa um gegnerische Positionen im Nahostkonflikt durch den Vorwurf des Antisemitismus moralisch zu diskreditieren. Dies hat relevante grundrechtliche Implikationen. Die zunehmende Implementierung der «Arbeitsdefinition» als quasi-rechtliche Grundlage von Verwaltungshandeln suggeriert Orientierung. Stattdessen ist sie faktisch ein zu Willkür geradezu einladendes Instrument. Dieses kann genutzt werden, um Grundrechte, insbesondere die Meinungsfreiheit, in Bezug auf missliebige israelbezogene Positionen zu beschneiden. Anders als die Bezeichnung «Arbeitsdefinition» suggeriert, findet auch keine Weiterentwicklung der Definition statt, um diese Schwächen zu beheben.
Fazit: Der Versuch, Probleme allgemeiner begrifflicher Klärung und universeller praktischer Einsetzbarkeit mithilfe der «Arbeitsdefinition Antisemitismus» zu lösen, muss insgesamt als gescheitert angesehen werden. Vor allem aufgrund ihrer handwerklichen Schwächen, ihrer defizitären Anwendungspraxis, ihres trotzdem teilweise verbindlichen rechtlichen Status und ihrer politischen Instrumentalisierbarkeit mit problematischen Implikationen für die Meinungsfreiheit kann die Verwendung der «Arbeitsdefinition Antisemitismus» nicht empfohlen werden. Eine mögliche Ausnahme könnten lediglich eng umgrenzte pädagogische Kontexte darstellen.
Wie die Entstehungsgeschichte der «Arbeitsdefinition Antisemitismus» und ihre weite Verbreitung deutlich machen, gibt es – auch angesichts einer weiter bestehenden Bedrohung durch gegenwärtigen Antisemitismus – einen großen Bedarf vonseiten verschiedener Institutionen nach in der Praxis anwendbaren Kriterien zur Identifikation antisemitischer Phänomene. Folglich ist die Entwicklung von klaren und kontextspezifischen Instrumenten für die Praxis dringend zu empfehlen.